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FREITAG 17

Zeugnis von Mariapia Bonanate  |  Aus der Predigt von Kardinal Christoph Schönborn  | 

Katechese und Predigt von Kardinal Christoph Schönborn,
Erzbischof von Wien

Gelobt sei Jesus Christus!
Liebe Mutter Elvira, liebe Brüder und Schwestern, ich habe euch so viel über die Barmherzigkeit Gottes Über das Thema „Barmherzigkeit und Wahrheit begegnen sich” mitzuteilen, dass ich nicht weiß, ob drei Stunden ausreichen würden.
Ich möchte mit zwei Szenen aus dem Evangelium beginnen. Mich trifft immer sehr der Kontrast zwischen der Barmherzigkeit Jesu und der Barmherzigkeit der Jünger. Oft finde ich mich auf der Seite der Jünger und ihrer Barmherzigkeit wieder und ich erschrecke mich fast angesichts der mächtigen und anspruchsvollen Barmherzigkeit Jesu, welche die eigentlich wahre ist.
Ich möchte zwei Beispiele aus dem Evangelium aufgreifen: Das erste findet sich im sechsten Kapitel des Markusevangeliums, als Jesus die Jünger jeweils zu zweit zur ihrer ersten Mission ausgesandt hatte.
Niemals allein: Das ist eine der grundsätzlichen Regeln des Evangeliums. Niemand kann allein das Evangelium verkünden; sie müssen immer zu zweit sein, denn, wie der heilige Gregor der Große sagt: Man kann die Nächstenliebe nicht allein praktizieren; man braucht immer mindestens einen anderen mit dem man die Liebe leben kann, und folglich sendet Jesus sie zu zweit.
Als sie von dieser ersten Mission zurückkehren, sagt Jesus zu ihnen: „Kommt, wir gehen an einen einsamen Ort, wo ihr ein wenig ausruhen könnt.” Er sagt das, weil so viele Leute da waren, dass sie nicht einmal Zeit zum Essen hatten. Darum sind sie also mit dem Boot auf den See von Galiläa hinaus gefahren, um an einen einsamen Ort zu gelangen. Aber die Leute haben sie abfahren sehen und sind zu Fuß am See entlang gelaufen, so dass sie noch vor Jesus ankamen. Nach ihrer Ankunft trafen sie sich wahrscheinlich in Tabga, so heißt der Ort der Brotvermehrung.
Als Jesus diese Menschen sah, war er berührt, erfüllt von Mitleid, denn „sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben.”
Der griechische Ausdruck heißt „ splanchna”, das sind die Eingeweide, auf Hebräisch „rahamim”; „rechem” ist der Mutterschoß; Jesus war bis in die Tiefe seines Lebens, in seinem ganzen Sein berührt, wie eine Mutter durch das Kind in ihrem Schoß berührt ist. Als er die Menge sah, war er erfüllt von Mitleid und Barmherzigkeit, weil sie wie Schafe ohne Hirten waren; und Markus fügt hinzu: „Und er lehrte sie vieles.” Den ganzen Tag hat er sie gelehrt!
Mich trifft sehr, dass Jesu erste Tat der Barmherzigkeit ist, ihnen das Wort des Lebens zu geben, sie viel zu lehren; und den ganzen Tag über waren diese fünftausend Personen da – nicht gerechnet Frauen und Kinder –, die Jesus zuhörten, während er lehrte. Er unterwies sie über den Weg des Lebens.
Und jetzt kommt die Barmherzigkeit der Jünger. Schauen wir uns an, auf welche Weise sie barmherzig waren: „Als es spät geworden war, kamen die Jünger zu ihm, und sagten: Dieser Ort ist abgelegen und es ist schon spät; darum entlasse sie, so dass sie in die nahegelegenen Dörfer gehen und sich etwas zu essen kaufen können.” Matthäus berichtet uns, dass sie zu Jesus gesagt haben: „Schick die Leute weg!” Ich habe den Verdacht, dass sie am Ende dieses langes Tages eine gewisse Leere empfunden haben, eine Leere, die sich Hunger nennt… und sie wollten endlich ihren Frieden haben. Denn sie waren ja an diesen einsamen Ort gekommen, um Frieden zu finden, sich auszuruhen und ein wenig mit Jesus allein Urlaub zu machen; aber nun waren diese vielen Menschen da. Deswegen sagen sie: „Schick die Leute weg!“ Das ist die Barmherzigkeit der Jünger: Die Menschen kommen, um Jesus zu sehen, und die Jünger schicken sie weg. Wenn ich als Priester und Bischof mein Gewissen erforsche, dann nehme ich oft diesen Text zu Hilfe. Aber Jesus gibt ihnen eine unmögliche Antwort: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ Man versteht sofort die Reaktion der Apostel im Evangelium: „Bist du verrückt?“ Sie sagen es nicht direkt im Evangelium, aber sicherlich haben sie es gedacht: „Du bist verrückt; sollen wir etwa hingehen und für zweihundert Denare Brot kaufen, um ihnen zu essen zu geben?“ Zweihundert Denare waren der Jahreslohn eines Arbeiters. Aber sie hatten kein Geld, sie hatten nichts. Und Jesus sagt zu ihnen: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ Jesus bittet sie um etwas Unmögliches. Die Barmherzigkeit Jesu erscheint oft als übertrieben, als unmöglich. Wie sollen sie es bewerkstelligen? Das was er von seinen Jüngern erwartet ist wirklich unmöglich, wohingegen das was seine Jünger wünschen und sagen mehr als verständlich ist: „Wir wollen Frieden haben, schick diese Leute weg!“
Die Barmherzigkeit, die Jesus lehrt, ist nicht leicht, aber sie ist die einzig wirkliche Barmherzigkeit.
Ich möchte euch ein zweites Beispiel zeigen, in welchem die Barmherzigkeit Jesu als sehr hart erscheint. Im fünfzehnten Kapitel des Matthäusevangeliums wird berichtet, wie Jesus sich wiederum mit seinen Aposteln zurückzieht. Dieses Sich-Zurückziehen ist sehr wichtig im Leben Jesu, er zieht sich vor allem zum Gebet zurück. Die heilige Teresa von Avila sagt: „Du sollst alles loslassen, nur nicht das Gebet.” „Jesus ging von dort weg und zog sich in die Region von Tyrus und Sidon (in ein heidnisches Gebiet) zurück und siehe eine kanaanäische Frau, eine Heidin, die aus dieser Gegend stammte, rief: „Habe Erbarmen mit mir, Herr, Sohn Davids, meine Tochter wird von einem Dämon gequält!“ Wie viele Eltern heute können diesen Schrei der armen heidnischen Frau gut nachvollziehen: „Meine Tochter wird von einem Dämon gequält!“ Aber Jesus antwortet nicht, nicht einmal mit einem Wort. Wie ist das möglich? Ist Jesus nicht berührt vom Leiden dieser Frau? Warum antwortet er nicht?
Schauen wir zunächst auf die Apostel; sie erscheinen barmherzig: „Die Jünger kamen zu ihm, um ihn zu bitten: Erhöre sie.” Sie sehen den Kummer dieser Frau und bitten Jesus: „Gib ihr, um was sie fleht, erhöre sie!“ Und sofort nennen sie auch den Grund, weswegen sie so ‚barmherzig‘ sind: „Erhöre sie, denn sie ruft uns nach, sie schreit hinter uns her.“ Schaut, das ist die Barmherzigkeit der Jünger; sie ist keine Antwort auf das Elend der Frau, der Mutter, die Jesus für ihre Tochter bittet, sondern: „Diese Frau, die so laut hinter uns her schreit, sie soll still sein!“ Ich musste an uns Bischöfe denken: Wir haben Angst vor diesem Lärm der Presse, der Massenmedien, die hinter uns her schreien, und darum wollen wir, dass Jesus all unsere Probleme löst, damit wir unseren Frieden und unsere Ruhe haben, aber das ist nicht die Barmherzigkeit Jesu!
Die Barmherzigkeit Jesu geht bei weitem über das hinaus. Jesus antwortet: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.”.Jesus sagt ihr: „Ich bin für die Juden gekommen, ich bin selber Jude, ich bin der Messias Israels. Ich bin nicht für euch Heiden gekommen, das ist nicht meine Aufgabe, ihr geht mich nichts an.“ Welche Härte! Was tut diese Frau darauf? „Sie kam, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir!” Sie hört nicht auf, ihr Elend und ihr Mitleid mit ihrer Tochter hinauszuschreien. Und was antwortet Jesus? „Es ist nicht gut, das Brot den Kindern wegzunehmen en und den Hunden vorzuwerfen. Das ist totale Verachtung. Die Härte Jesu ist erschreckend, wie kann er nur so handeln? Aber diese Frau lässt sich von dieser offensichtlichen Härte Jesu nicht beeindrucken; sie sagt: „Ja, Herr, du hast recht, es ist wahr; wir Heiden, ich arme Heidin habe kein Recht auf das Brot der Kinder, aber auch die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tisch ihrer Herren fallen.” Und jetzt kann Jesus sie nicht mehr zurückweisen, sie hat ihr Ziel erreicht: „Frau, dein Glaube ist groß! Was du willst, soll geschehen.” Und von dieser Stunde an war ihre Tochter geheilt. Was ist die Barmherzigkeit Jesu? Er erscheint bloß hart, aber in seiner göttlichen, wahrhaft göttlichen Barmherzigkeit hat er diese Frau zu einem unglaublichen Glaubensakt geführt, zu einem totalen Glauben. Er hat nicht sofort alles gegeben, wie wir so oft versucht sind, es zu tun: Sofort alle Probleme zu lösen das ist keine Barmherzigkeit! Jesus lässt diese Mutter den Weg des Glaubens gehen, er lässt sie den Weg des Leides gehen, bis sie versteht: „Ich habe kein Recht, dass Jesus mir hilft und meine Tochter heilt.“ Aber sie hat eine Sehnsucht, die in Schwierigkeiten nicht aufgibt, auch nicht angesichts des scheinbaren Misserfolges. Hier sieht man die Barmherzigkeit Jesu.
Ich lade euch ein, die Barmherzigkeit Jesu schrittweise tiefer zu erfassen; dies könnt ihr durch das Wort Gottes und durch die menschliche Erfahrung, an der ihr reich seid.
Was ist wirklich Barmherzigkeit? Wo ist das Limit, wo ist die Grenze zwischen Barmherzigkeit und Nachlässigkeit, zwischen Barmherzigkeit und Ungerechtigkeit? Bisweilen ist die Strenge barmherziger als die Haltung, alles durchgehen zu lassen. „Everything goes” sagt man heute; alles ist möglich, man kann alles machen: Das ist keine Barmherzigkeit. Die Eltern, die ihren Kindern alles erlauben, sind nicht wirklich barmherzig; sie haben die Barmherzigkeit der Jünger: Sie wollen nicht, dass die Kinder hinter ihnen herrufen. Und deswegen geben sie ihnen Geld, Computer und setzen sie vor den Fernseher… aber das ist nicht Barmherzigkeit. Die Liebe erträgt viel, aber fordert auch viel.
Heute leben wir in einer Zeit des Sozialdarwinismus. Ich habe diese Fragestellung lange studiert und öffentlich diskutiert; immer ging es um die Frage: Ist es wahr, was Darwin gesagt hat? Dass der Stärkere überlebt, dass dies das Gesetz der Natur sei: Das Überleben des Stärkeren? Wehe den Schwachen, wehe den Armen! Wenn dies das Modell der Gesellschaft ist, wehe uns! Die Psychologie sagt uns heute oft: Du musst dich durchsetzen, du musst dich hervortun, du musst dich selbst verwirklichen. Die Barmherzigkeit wird als Schwäche angesehen, als etwas, das nicht zum Erfolg führe und nichts nütze für das eigene Leben, für das Ich.
Friedrich Nietzsche, dieser arme, große Philosoph, hat gesagt, dass das Christentum eine Religion der Schwachen sei und dass ein barmherziger Gott für ihn ein erbärmlicher Gott sei; die Christen seien minderwertige Menschen, weil die Barmherzigkeit den Menschen schwach und ohnmächtig mache.
Und weiter gibt es den Verdacht, dass die Barmherzigkeit die anderen erniedrige: Wenn ich an dir Barmherzigkeit übe, bin ich gewissermaßen oben und du stehst unten.
Andererseits habe ich mir oft den Vorwurf anhören müssen, die Kirche sei ohne Barmherzigkeit. Wie oft habe ich das gehört! Zum Beispiel in Bezug auf die geschiedenen Wiederverheirateten. Also ich sage immer: Schaut auf das, was Jesus getan hat, als er gefragt wurde: „Aber Mose hat uns erlaubt, die Frau aus der Ehe zu entlassen, sich scheiden zu lassen.“ Was antwortet Jesus? „Wegen der Härte eurer Herzen hat Mose euch erlaubt, eure Frauen zu verstoßen.“ Wegen der Härte des Herzens! Wenn ich höre, die Kirche sei ohne Barmherzigkeit, dann frage ich: „Aber ihr Eltern, die ihr euch habt scheiden lassen, seid ihr barmherzig zu euren Kindern gewesen? Wer hat die Kinder leiden lassen? Warum habt ihr das Joch eurer Streitigkeiten euren Kindern aufgeladen? Wem fehlt die Barmherzigkeit?“ Und oft folgt dann ein Augenblick des Schweigens. Die Kirche ist die einzige Institution in unserer Gesellschaft, die die Ehe verteidigt! Sie verteidigt die Schwachen, die Kinder, die ihre Eltern brauchen. Und ich sage das, weil auch die Ehe meiner Eltern gescheitert ist, auch ich habe die Scheidung meiner Eltern miterleben müssen. Einer der schönsten Momente meines Lebens und vielleicht auch der härteste war, als Jugendliche in einer Schule mich gefragt haben: „Herr Kardinal, welches war der schwerste Moment in Ihrem Leben?“ Ich war von dieser Frage überrascht und spontan –ohne nachzudenken –habe ich aus dem Herzen heraus geantwortet: „Der Moment als ich erfahren habe, dass meine Eltern sich scheiden lassen.” Da war es auf einmal ganz still im Raum und die Jugendlichen haben zugehört. Dann habe ich hinzugefügt: „Schaut, ich habe aber auch die Erfahrung gemacht, wie schön die Versöhnung ist: Meine Eltern sind zwar nicht wieder zusammengekommen, aber sie haben sich versöhnt. Und mein Vater ist kurz vor seinem Tod – er hatte Krebs – nach Hause gekommen, um sein letztes Weihnachtsfest in der Familie zu feiern.
Wenn wir die Erfahrung der Barmherzigkeit Jesu, der Barmherzigkeit Gottes machen, seine Vergebung erfahren, dann stimmt es zwar, dass die Narben der Verwundungen zurückbleiben, aber es gibt die wirkliche Heilung und sogar noch mehr: die Neuheit der Vergebung. Vielleicht lässt es der Herr deswegen zu, dass wir durch große Leiden hindurchgehen, denn so können wir die Größe seiner Barmherzigkeit kennenlernen. Ja, die Kirche ist barmherzig. Doch worin besteht die Barmherzigkeit? Vor allem ist die Barmherzigkeit das Innerste Gottes, Sein Herz: Die Barmherzigkeit Jesu kommt nicht aus Ideen oder Gefühlen, sondern entspringt unmittelbar aus dem Herzen des Vaters. Jesus sagt: „Ich sage euch das, was ich von meinem Vater gehört und gesehen habe.“ Er ist die Übersetzung der Barmherzigkeit des Vaters in seinem Wort und Handeln. Gerade darum hat er gesagt: „Wer mich sieht, sieht den Vater.“ Wenn wir die Barmherzigkeit Jesu konkret in seinem Handeln sehen, dann sehen wir den Vater, sehen Gott. Im Hebräischen gibt es zwei Ausdrücke für „Barmherzigkeit“, und das ist sehr interessant: Papst Johannes Paul II. hat darüber eine wunderschöne Meditation in seiner Enzyklika „Dives in Misericordia“ geschrieben. Es gibt zwei Ausdrücke „khesed” und „rehem”. „Khesed” ist die Treue, „rehem” ist der Mutterschoß. Johannes Paul II. legt dar, dass diese beiden Gesichtspunkte wie die Treue eines Vaters und die Zärtlichkeit einer Mutter seien. Beide Aspekte sind Teil der Barmherzigkeit Gottes: ein männlicher und ein weiblicher Aspekt. Liebe Freunde, wie sehr brauchen wir heute Väter! Es bedarf der khesed, der Festigkeit, der Treue des Vaters. Mir scheint, dass gerade dies ein großer Mangel in der heutigen Gesellschaft ist, in unserem Leben, eine Sache, die wir wirklich dringend brauchen. Ich erinnere mich, als Johannes Paul II. gestorben ist: Eine riesige Menschenmenge war dort, man sagt, es seien vier Millionen Menschen gewesen, die den aufgebahrten Leichnam des Heiligen Vaters im Petersdom sehen wollten. Sie warteten in einer langen Schlange bis zu 15 oder 16 Stunden, um einen Augenblick vor dem Leichnam des Papstes verweilen zu können. Ich, als Kardinal konnte sofort passieren. Ich habe nicht stundenlang gewartet, das muss ich zugeben. Das rote Kardinalskäppchen ist der „Reisepass“ in Rom. Aber ich habe viele Jugendliche gefragt: „Warum macht ihr das? Warum nehmt ihr die Beschwerden des Wartens auf euch?“ Und alle haben mir geantwortet: „Er war ein Vater, wir haben einen Vater verloren; wir wollen ihm danken.“ Diese Väterlichkeit von Papst Johannes Paul und – auf etwas verborgenere und zurückhaltendere Weise – die von Papst Benedikt: wir haben sie wirklich dringend nötig! Papst Benedikt kenne ich sehr gut, schon seit 37 Jahren: Ich bin sein Student und Schüler in Regensburg gewesen, als er Professor war; und später war ich während der Arbeit am neuen Katechismus mit ihm zusammen. Ich kann sagen und bezeugen, dass er ein sehr demütiger und sehr einfacher Mensch ist. Als er gerade Präfekt der Glaubenskongregation geworden war, habe ich die Pförtnerin des Palastes der Kongregation gefragt: „Wie ist dieser deutsche Kardinal?“ Sie hat mir geantwortet: „Er ist ein wahrer Christ.“ Welch ein schönes Zeugnis: „Er ist ein wahrer Christ!“
Falls ihr nicht zu müde seid, fragen wir uns noch etwas eingehender, auch vom philosophischen Standpunkt her: „Was ist die Barmherzigkeit? Ist es eine natürliche oder übernatürliche Haltung? Ist es eine allgemein menschliche Sache oder eine bloß christliche Haltung? Dieser deutsche Philosoph Nietzsche, der sein ganzes Leben lang mit Gott und gegen Gott gekämpft hat, hat einen schrecklichen Satz gesagt: „Die Schwachen und Behinderten müssen umkommen! Das ist das erste Prinzip unserer Liebe zu den Menschen. Und zu diesem Zweck muss es auch Hilfen geben, um sie verschwinden zu lassen. Und welches ist das schädlichste jeglichen Lasters? Das Mitleid, das Christentum.“ Dies zu sagen scheint uns übertrieben, aber wenn man die anwachsende Befürwortung der Euthanasie heute sieht, dann ist es geradezu „die Religion der Stärkeren“, die sich durchsetzt: Lasst die Schwachen verschwinden. Das Verlangen nach Euthanasie ist genau die Verwirklichung dessen, was Nietzsche verlangt – als Protest gegen das Christentum: „Das ist das erste Prinzip unserer Liebe zu den Menschen.“ Der Kampf für die Euthanasie ist – wenigstens in Europa – zu einem beispielhaften Kampf dieser falschen Barmherzigkeit geworden, die es nicht ertragen kann, Leid zu sehnen. Einer meiner Schulfreunde, der Arzt geworden ist, sagte einmal zu mir: „Manchmal kommen Enkel zu mir und fragen: Herr Doktor, mein Oma leidet so sehr, sie ist so krank, sie hat Krebs, hat so viele Schmerzen: Herr Doktor, können Sie ihr nicht… helfen, dass diese Leiden aufhören?“ Darauf antwortet er: „Bringt eure Oma doch selbst um!“ Und sofort ist klar, was das ist: Euthanasie: Umbringen! Man sucht eine Entschuldigung, dass es der Arzt auf „menschliche Weise“ tun soll. „Bringt eure Oma doch selbst um!“ Seht, das ist die Wahrheit! Ein anderes schreckliches Beispiel: Das Down-Syndrom. Heute kann man diese Krankheit schon im Mutterschoß feststellen, zwar nicht mit Sicherheit, aber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Dann sagt der Arzt zur Mutter: „Ihr Kind hat möglicherweise das Down-Syndrom.“ Was bedeutet das? Ihr könnt es umbringen, wenn ihr wollt, treibt es ab! Und die arme Mutter steht unter einem entsetzlichen Druck. Zwei Drittel der Kinder mit Down-Syndrom wurden bereits aus unserer Gesellschaft „entfernt.“ Zwei Drittel dieser Ungeborenen sind verschwunden. Warum? Nicht, weil sie geheilt worden wären, sondern, weil sie im Mutterschoß umgebracht wurden. Das ist die traurige Barmherzigkeit unserer Gesellschaft: einen unheilbar Kranken zu töten.
Die Barmherzigkeit Jesu hat ein anderes Fundament: Es gibt ein natürliches Fundament der Barmherzigkeit: Wir alle haben eine natürliche Neigung, Mitleid mit den Kranken zu haben. Eine Mutter, wenn sie ihr krankes Kind sieht, hat Mitleid, das ist ganz natürlich. Und ganz spontan würden wir alle sagen, dass es unmenschlich ist, kein Mitleid mit dem eigenen Kind zu haben. Andererseits aber reicht dieses (natürliche) Mitleid allein heute nicht mehr aus; denn eine andere Form der Barmherzigkeit, der falschen Barmherzigkeit, übt einen unglaublichen Druck aus. Es ist ein so großer Druck, dass wir eine kraftvolle Hilfe von oben brauchen. Denn der Feind, der Teufel, versteckt sich hinter einer falschen Barmherzigkeit: nicht aus Barmherzigkeit, sondern aus Hass gegen den Menschen. Und deswegen brauchen wir die Kraft Christi. Die natürliche Kraft reicht nicht aus, um den Leprakranken zu umarmen, so wie Jesus es getan hat. Es ist unmöglich einen Leprakranken zu umarmen. Es ist sehr schwer, nicht die Augen abzuwenden angesichts des Elends der vielen Jugendlichen, die unter der Lepra der Droge und des Alkohols leiden. Wir brauchen eine stärkere Kraft als die bloß natürliche, weil unsere Natur sich sträubt und weigert, zu viel Schlechtes zu sehen.
Schauen wir uns jetzt die Frage an, ob die Barmherzigkeit für alle gilt oder nur für einige? Es gibt ein skandalöses Wort Jesu, als er nach Nazaret in seine Heimatstadt kam, wo er aufgewachsen war. Viele seiner Mitbewohner erwarteten, dass er Wunder wirken würde. Und Jesus sagte: „Es gab viele Leprakranke in Israel zur Zeit des Propheten Elischa, aber keiner von ihnen wurde geheilt, sondern nur der Syrer Naaman, der Heide.“ Ist die Barmherzigkeit für alle oder nur für einige? Jesus hat nicht alle geheilt, viele Male hat er nur den einen oder anderen geheilt. Es ist ein offensichtliches Dilemma. Aber es gibt eine Antwort, und diese sehen wir hier: Die Barmherzigkeit ist nicht abstrakt, Jesus trägt uns nicht auf, die Menschheit zu lieben, sondern den Nächsten. Dies wird konkret sichtbar im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Jesus ruft uns nicht dazu auf, das Unmögliche zu tun. Wir können nicht alle Wunden der Welt heilen, aber wir können unseren Nächsten sehen, der unter die Räuber gefallen ist. Entweder können wir handeln wie die beiden Geistlichen, der Priester und der Levit, die vorbeigegangen sind, oder wir können es machen wie der Barmherzige Samariter. Was soll das heißen? Auch die Gemeinschaft Cenacolo kann sicherlich nicht die Drogenprobleme der ganzen Welt lösen. Soll das heißen, dass wir alles laufen lassen sollen, dass es nichts zu tun gibt? Nein, die Barmherzigkeit ist konkret! Die Eltern mit ihren Kindern, mit dem Kreuz, dem Leiden, mit der Geduld und dem Gebet können sie auferstehen. Nicht an jenem Verwundeten vorbeigehen, der dort am Straßenrand liegt: Das ist die Antwort Jesu. Und diese Antwort hat einen sehr konkreten Effekt, sie ist ansteckend: Denn ich sehe hier mit eigenen Augen, dass es möglich ist, neu geboren zu werden und das Leben neu zu beginnen. Diese Barmherzigkeit, die ihr alle erlebt und erfahren habt, ist die Barmherzigkeit Jesu.
Eine letzte Frage: Was ist denn mit denjenigen, denen ich nicht helfen kann? Unsere Antwort ist: Der Herr existiert! Es gibt den Herrn! Und wir dürfen das Vertrauen haben, dass – wenn wir seine Barmherzigkeit erfahren durften – Jesus auch ihnen gegenüber barmherzig sein wird.
Ich möchte schließen mit den 99 Schafen, die der Gute Hirte in der Steppe zurücklässt, um das verlorene hundertste zu suchen. Manchmal habe ich mir überlegt: „Diese Handlungsweise des Guten Hirten ist unverantwortlich!“ Und doch hat sie einen verblüffenden Effekt: Wenn ich – Gott sei Dank – zu den 99 Schafen gehöre und sehe, dass der Gute Hirte hingeht, um das verlorene hundertste Schaf zu suchen bis er es findet und zum Stall zurückbringt, dann kann ich mir selbst sagen: „Falls auch ich einmal ein verlorenes Schaf sein sollte, dann bin ich sicher, dass dieser Hirte kommen wird, um auch mich zu suchen und zu retten.“ Das ist die Frohe Botschaft, das Evangelium. Danke für eure Geduld, mit der ihr mir zugehört habt.

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