Vortrag zur Eröffnung des 1. Weltkongresses über die Göttliche Barmherzigkeit [2.4.2008], Basilica S. Giovanni, Rom Kardinal Dr. Christoph Schönborn
Eminenzen, Exzellenzen, liebe Teilnehmer an diesem 1. Kongress über die Göttliche Barmherzigkeit! „Misericordia Domini in aeternum cantabo!“ „Dein Erbarmen, oh Herr, will ich in Ewigkeit singen!“ (Psalm 89,2). Wirklich, heute, an diesem 3. „dies natalis“ des Dieners Gottes Papst Johannes Paul II, dürfen wir das Erbarmen des Herrn preisen. Mit dem Heiligen Vater Papst Benedikt blicken wir noch einmal zu dem gewissen Fenster hinauf, im 3. Stock des Apostolischen Palastes, zum Fenster des Papstes, und wir erinnern uns des 2. April 2005. Es war der Vorabend, die Vigil des Festes der Barmherzigkeit, des „Weißen Sonntags“. Wirklich die ganze Welt blickte hinauf zu diesem Fenster, im Wissen, dass der Papst im Sterben liegt. Schon lange hatte sich die Krankheit des Papstes hingezogen. Er konnte die Ostertage nicht mehr selber feiern. Vielen ist unvergesslich in Erinnerung, wie der Papst am Ostersonntag zum Segen Urbi et Orbi am Fenster erschien und einen Ostergruß an die vielen Menschen auf dem Petersplatz und an den Fernsehgeräten richten wollte. Er konnte nicht mehr sprechen. Nur eine stumme Geste des Segens und dieses unvergesslich schmerzliche Gesicht des geliebten Papstes. Es war sein letzter Gruß, sein letztes Erscheinen am Fenster. Am Freitag, dem 1. April, hatte ich die Freude, mit mehreren Kardinälen und Bischöfen im Abendmahlsaal in Jerusalem die Eucharistie zu feiern. Zu Beginn der Heiligen Messe kam die Nachricht, der Heilige Vater liege in den letzten Zügen, jeden Moment sei mit seinem Ableben zu rechnen. Es war sehr bewegend, gerade im Abendmahlsaal in Jerusalem für den Heiligen Vater zu beten und die Eucharistie zu feiern. Gegen Ende der Heiligen Messe kam die Nachricht, es gehe dem Heiligen Vater wieder etwas besser. Mein erster Gedanke war: möge der Herr ihn am Sonntag der Barmherzigkeit heimholen! Das wäre sozusagen das richtige Sterbedatum für Papst Johannes Paul II. 1. Der Diener Gottes Johannes Paul II – Papst der Barmherzigkeit Wir erinnern uns, wie dann die Ereignisse liefen. Ich denke, Kardinal Dziwisz ist der berufendste Zeuge für diese Stunden. Und auch Kardinal Ruini, der anwesend war. Um 8 Uhr abends des Samstags, der 2. April, also nach liturgischem Brauch bereits am Beginn des Sonntags (denn der Sonntag beginnt liturgisch mit der Vesper des Samstag abends, die zu Recht deshalb „die 1. Vesper vom Sonntag“ heißt), feierte der Sekretär des Heiligen Vaters noch einmal die Heilige Messe am Sterbebett des Papstes. Es war bereits die Messe vom Sonntag der Barmherzigkeit. Ein letztes Mal empfing der Heilige Vater die Kommunion in der Form von einigen Tropfen von Christi kostbarem Blut, und um 21 Uhr 37 kehrte er heim zum himmlischen Vater. So endete sein irdischer Weg am „Sonntag der Barmherzigkeit“, den er selber im Jubiläumsjahr 2000 eingeführt hatte. Damals, am Weißen Sonntag des Jahres 2000, hatte er zugleich mit der neuen Namensgebung für diesen Sonntag der Osteroktav, Schwester Maria Faustyna Kowalska heilig gesprochen, die erste Heilige des neuen Jahrtausends. Es ist schwer, ja unmöglich, in diesem Zusammentreffen nicht ein „Zeichen des Himmels“ zu sehen. Hat nicht Gott selber seine „Unterschrift“ unter ein ganzes Lebensprogramm gesetzt, das Papst Johannes Paul II. immer wieder ganz ausdrücklich als seine Sendung bezeichnet hat? 1997 hat er in Lagiewniki, dem Ort, wo Sr. Faustyna gelebt hat und begraben ist, gesagt: „Die Botschaft von der Göttlichen Barmherzigkeit hat in gewisser Weise das Bild meines Pontifikates geprägt“. So lade ich Sie ein, dass wir ein wenig den Weg betrachten, den Papst Johannes Paul II. mit diesem Geheimnis gegangen ist, wie er es erlebt, gelebt, durchdacht und an uns alle weitergegeben hat. Bei seinem letzten Besuch in Polen – es war der Abschied von seiner Heimat im Jahr 2002 – hat er die neue Basilika von Lagiewniki, das Heiligtum der Göttlichen Barmherzigkeit, geweiht. Ich zitiere einige Worte aus dieser Predigt, die für mich ein Auftrag an seine polnische Heimat, aber auch an die ganze Weltkirche war, ja eine innige Bitte des Papstes und letztlich eine Bitte Jesu an unsere Zeit. Damals am 17. August 2002 sagte er in Lagiewniki: „Wie dringend braucht die heutige Welt das Erbarmen Gottes. Aus der Tiefe des menschlichen Leids erhebt sich auf alle n Erdteilen der Ruf nach Erbarmen. Wo Hass und Rachsucht vorherrschen, wo Krieg das Leid und den Tod unschuldiger Menschen verursacht, überall dort ist die Gnade des Erbarmens notwendig, um den Geist und das Herz der Menschen zu versöhnen und Frieden herbeizuführen. Wo das Leben und die Würde des Menschen nicht geachtet werden, ist die erbarmende Liebe Gottes nötig, in deren Licht der unfassbare Wert jedes Menschen zum Ausdruck kommt. Wir bedürfen der Barmherzigkeit, damit jede Ungerechtigkeit in der Welt im Glanz der Wahrheit ein Ende findet.“ Dann kamen die feierlichen Worte, die so etwas wie das Testament dieses großen Papstes darstellen: „In diesem Heiligtum möchte ich daher heute die Welt feierlich der Barmherzigkeit Gottes weihen mit dem innigen Wunsch, dass die Botschaft von der erbarmenden Liebe Gottes, die hier durch Schwester Faustyna verkündet wurde, alle Menschen der Erde erreichen und ihre Herzen mit Hoffnung erfüllen möge. Jene Botschaft möge, von diesem Ort ausgehend, überall in unserer geliebten Heimat und in der Welt Verbreitung finden. Möge sich die Verheißung des Herrn Jesus Christus erfüllen: Von hier wird ein Funke hervorgehen, der die Welt auf Mein endgültiges Kommen vorbereitet. Diesen Funken der Gnade Gottes müssen wir entfachen und dieses Feuer des Erbarmens an die Welt weitergeben. Im Erbarmen Gottes wird die Welt Frieden und der Mensch Glückseligkeit finden! Euch, liebe Brüder und Schwestern, vertraue ich diese Aufgabe an. Seid Zeugen der Barmherzigkeit!“ Ich denke, diese Worte des großen Papstes, die er bei seiner letzten Reise, einen Tag vor seinem Abschied, in Polen zurückgelassen hat, sind eine Art Weisung an die ganze Kirche für diese Zeit. Sie sind auch in gewisser Weise der „Taufpate“ dieses Kongresses. Seinen Appell: „Seid Zeugen der Barmherzigkeit“ wollen wir als Auftrag verstehen. Dann geschah etwas Rührendes: Am Ende der Eucharistiefeier sagte der Heilige Vater ganz spontan einige Worte der persönlichen Erinnerung, an denen man sieht, wie tief das Thema der Göttlichen Barmherzigkeit in seinem Leben verankert war, ja wie es gewissermaßen die Klammer war, die sein ganzes Leben zusammenhielt. Schon ganz am Anfang seines schweren Weges zum Priestertum steht die Begegnung mit der Botschaft der Göttlichen Barmherzigkeit, und sie war das Siegel seiner Todesstunde. Ich zitiere, was er damals am 17. August 2002 gesagt hat: „Zum Abschluss dieses feierlichen Gottesdienstes möchte ich anmerken, dass viele meiner persönlichen Erinnerungen mit diesem Ort in Verbindung stehen, mitLagiewniki, Vorort von Krakau. Ich kam vor allem während der Besatzung durch die Nationalsozialisten hierher, als ich in der nahe gelegenen Solvay-Fabrik arbeitete. Noch heute erinnere ich mich an den Weg von Borek Falecki nach Debniki, den ich jeden Tag mit Holzschuhen an den Füßen zurücklegen musste, wenn ich zur Schichtarbeit ging. Wer hätte geglaubt, dass dieser Mann mit den Holzschuhen eines Tages die Basilika von der Göttlichen Barmherzigkeit in Lagiewniki bei Krakau weihen wird.“ 1942 war Karol Wojtyla in das „Geheimseminar“ eingetreten, das Kardinal Sapieha, der mutige Erzbischof von Krakau, gegründet hatte. Ein Mitseminarist, Andreas Deskur, heute Kurienkardinal im Rollstuhl, schwerkrank, machte ihn aufmerksam auf die Botschaft von der Göttlichen Barmherzigkeit von einer gewissen Schwester Faustyna Kowalska, die 1905 geboren war – im Geburtsjahr von Kardinal König – und 1938 33jährig gestorben war. Er wusste also damals schon von dieser einfachen Schwester, an deren Kloster er tagtäglich vorbeiging zur Zwangsarbeit in der Chemiefabrik. Er hörte schon damals von den Botschaften, die sie von Jesus bekommen hatte und in eindrucksvoller Weise in ihrem Tagebuch festhielt. Als Weihbischof von Krakau und dann als Erzbischof und Kardinal bemühte Karol Wojtyla sich sehr um die Seligsprechung von Schwester Faustyna. Er musste einige Widerstände überwinden, denn das Heilige Offizium, heute die Glaubenskongregation in Rom, hatte große Bedenken gegen die Schriften von Schwester Faustyna. Es stellte sich dann heraus, dass dies vor allem an fehlerhaften, missverständlichen Übersetzungen lag. Als Papst konnte Johannes Paul II. sie dann schließlich 1993 selig- und im Jahr 2000 heiligsprechen. Wie zentral dieses Thema in seinem Leben war, hat er immer wieder betont. Vor allem aber sah er in den Botschaften von Schwester Faustyna, die im Grunde nichts anderes sagen, als was das Evangelium uns sagt, eine Antwort auf die unbeschreiblichen Ausmaße des Bösen im 20. Jahrhundert, deren Zeuge er selber in seinem Leben wurde, die Gräuel des Nationalsozialismus, die unvorstellbaren Leiden des polnischen Volkes unter der Nazibesetzung und der nachfolgende Kommunismus. Im Rückblick auf die Jahre des Leidens hat er 1997 gesagt: „Die Botschaft von der Göttlichen Barmherzigkeit ist mir immer nahe und lieb gewesen. Es ist, als hätte die Geschichte sie in die tragische Erfahrung des 2. Weltkrieges eingeschrieben. In diesen schweren Jahren war sie eine besondere Hilfe und eine unerschöpfliche Quelle der Hoffnung, nicht nur für das Volk von Krakau, sondern für die ganze polnische Nation. Das war auch meine persönliche Erfahrung, die ich mit mir nahm auf den Stuhl Petri, und die in gewissem Sinn das Bild meines Pontifikats prägt“ (7. Juni 1997). Nun muss man die Frage stellen: Wollte Papst Johannes Paul II. damit eine bestimmte Frömmigkeitsform besonders fördern? Sie kennen vielleicht das Bild von Krakau-Lagiewniki des barmherzigen Jesus mit den Strahlen, die von ihm ausgehen, sie kennen vielleicht den Rosenkranz der Barmherzigkeit, die Stunde der Barmherzigkeit. Er hat diese Frömmigkeitsformen sicher geschätzt, aber er hat sie eher selten thematisiert. Aber er fand in den Worten, den Botschaften, die Sr. Faustyna von Jesus erhielt und die sie in ganz einfacher Sprache weitergab, Antwort auf die großen Fragen und Herausforderungen unserer Zeit. Papst Johannes Paul II. hat im Licht dieser Botschaften ein langes Leben lang über das nerschöpfliche Geheimnis der göttlichen Barmherzigkeit nachgedacht. Dieses Geheimnis hat sein Wirken als Priester, Bischof und Papst geprägt und es hat in der ganzen Welt Menschen, zahllose Menschen durch seine Person hindurch berührt. Er war wirklich ein einzigartiger „Zeuge der Barmherzigkeit“. Bevor wir auf das Thema der Barmherzigkeit inhaltlich eingehen, möchte ich eine kurze Bemerkung über „Privatoffenbarungen“ voranstellen. Welche Bedeutung haben sie? Wie „verbindlich“ sind sie? Hören wir, was im „Katechismus der Katholischen Kirche“ (Nr. 67) dazu steht: „Im Laufe der Jahrhunderte gab es sogenannte „Privatoffenbarungen“, von denen einige durch die kirchliche Autorität anerkannt wurden. Sie gehören jedoch nicht zum Glaubensgut. Sie sind nicht dazu da, die endgültige Offenbarung Christi zu „vervollkommnen“ oder zu „vervollständigen“, sondern sollen helfen, in einem bestimmten Zeitalter tiefer aus ihr zu leben. Unter der Leitung des Lehramtes der Kirche weiß der Glaubenssinn der Gläubigen zu unterscheiden und wahrzunehmen, was in solchen Offenbarungen ein echter Ruf Christi oder seiner Heiligen an die Kirche ist. Die „Privatoffenbarungen“, die Sr. Faustyna erhielt, helfen sicher, „in einem bestimmten Zeitalter“, in unseren Tagen tiefer aus der Offenbarung Christi zu leben. Und zweifellos liegt in ihnen auch „ein echter Ruf Christi … an die Kirche“ vor. Gerade heute, am 3. Sterbetag des großen Papstes der Barmherzigkeit, wollen wir, die wir aus allen Teilen der Erde zu diesem Kongress zusammengekommen sind, uns gemeinsam bemühen, den Ruf Christi an die Kirche von heute zu hören und anzunehmen. Möge Christus selber uns helfen, seinen Wunsch tiefer zu erkennen, den er der heiligen Sr. Faustyna so oft ans Herz gelegt hat: dass alle Menschen Seine Barmherzigkeit kennenlernen, erfahren und selber leben.
2. Gottes Barmherzigkeit – Mitte des christlichen Glaubens So vieles möchte ich in dieser kurzen Zeit mit Ihnen allen betrachten, wenn wir jetzt fragen, was denn nun die wichtigsten Punkte in der Lehre von Gottes Barmherzigkeit sind. Ich muss mich stark beschränken. Zuerst ein Wort über Gottes Barmherzigkeit im Alten Testament. Dann der Blick auf Jesus, Gottes Erbarmen in Person. Schließlich einige Hinweise, wie wir selber tiefer das Geheimnis der Barmherzigkeit leben können.
a) Gottes Barmherzigkeit – das Herz des Alten Testaments Leider gibt es immer noch die schlimme Vorstellung, der Gott des Alten Testaments sein ein zorniger, der Gott des Neuen Testaments ein gütiger Gott. Ganz anders ist es in Wirklichkeit. Das Alte Testament ist die große Schule der Barmherzigkeit Gottes. Gott offenbart sich dem Mose als „ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue“ (Ex 34, 6; vgl. KKK 210). Sein Zorn ist nur die Kehrseite seiner leidenschaftlichen Liebe. Sein Zorn ist Ausdruck seiner Sorge. Nicht Er braucht sein Volk, sondern sein Volk braucht ihn. Wenn sein Volk sich von ihm abwendet, bringt das Unglück und Not. „Mich hat [das Volk] verlassen, den Quell des lebendigen Wassers, um sich Zisternen zu graben, Zisternen mit Rissen, die das Wasser nicht halten“ (Jer 2,13). Die Liebe Gottes zu seinem Volk ist unvorstellbar treu. Sie ist aber auch wahrhaftig. Seine Barmherzigkeit zeigt sich zuerst darin, dass sie die Wahrheit offenbart. Gibt es eine Religion, in der so schonungslos, so unerbittlich kritisch alle Fehler der eignen Gemeinschaft gegeißelt werden? Schonungslos werden die Fehler benannt, wird alles Versagen beim Namen genannt. Aber, vom König bis zu den einfachen Leuten, werden – scheinbar schonungslos – ihre Sünden vorgehalten. Gerade darin zeigt sich Gottes Barmherzigkeit. Sie kann nie ohne Wahrheit sein. Sie kann nur heilen, wenn sie ganz ehrlich und klar die Diagnose stellt. Das Alte Testament zeigt großartig Gottes Erbarmen mit den Sünden des Volkes. Aber die Sünden werden nicht verharmlost, nicht bagatellisiert. Christus wird das zur Vollendung führen: Sei Erbarmen ist nie ohne die Wahrheit. Die Heuchler können kein Erbarmen finden, weil sie so tun, als bräuchten sie kein Erbarmen. Nur wo die Sünden beim Namen genannt werden, kann die Barmherzigkeit „greifen“. Umgekehrt ist es aber erst möglich, wirklich die eigene Armseligkeit anzuschauen, die eigenen Sünden zu sehen und zu bekennen, wenn uns Gottes Barmherzigkeit begegnet. Einem unbarmherzigen Richter gegenüber die eigene Schuld zu offenbaren, wäre gewissermaßen Selbstmord. Erst im Angesicht der Liebe Gottes, die die Sünde hasst, aber den Sündern liebt, ist es möglich, die eigene Sünde anzunehmen und zu bekennen. Wie ein Kind, das etwas angestellt hat, kann der Sünder zu Gott laufen und sich in seine barmherzigen Arme werfen. Das Vertrauen auf Gott, auf Jesus („Jezu, ufam tobie“, „Jesus, ich vertraue dir“) macht es erst möglich, die eigenen Sünden wirklich aus Liebe zu Gott zu bereuen. Man wirft der Bibel und dem Christentum gerne vor, hier sei ständig die Rede von der Sünde. Es stimmt: Unsere Liturgie spricht viel von Sünde. Aber liegt das nicht auch daran, dass wir auf Gottes Barmherzigkeit vertrauen? Weil wir glauben und vertrauen, dass Gott unendlich barmherzig ist, brauchen wir die Sünden nicht zu verleugnen, unsere Fehler nicht abzustreiten, uns ständig für unschuldig zu erklären. Nur so können wir verstehen, warum die großen Heiligen sich so sehr für Sünder hielten. Sie sahen im Licht der Barmherzigkeit Gottes, wie sehr sie noch Sünder sind, und wie tief die eigene Armseligkeit war. Ich werde zum Schluss einen erstaunlichen Text von Sr. Faustyna zitieren, der das deutlich macht. Das Alte Testament ist wirklich die große Liebesgeschichte Gottes mit seinem Volk, die Schule der Barmherzigkeit. Aber erst in Jesus Christus wird das ganze Ausmaß der Barmherzigkeit Gottes offenbar. Er ist Gottes Barmherzigkeit „in Person“
b) Jesus – die „Inkarnation“ von Gottes Barmherzigkeit Den besten Beweis, dass der Gott des Alten Bundes der Barmherzige ist, liefert uns Jesus selber. Er nennt als „Kurzformel“. Für den Weg zur Heiligkeit einfach folgendes: „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist“ (Lk 6,36). Die Barmherzigkeit zu leben heißt also, vollkommen zu sein, „wie es auch euer himmlischer Vater ist“ (Mt 5,48). Wie aber ist unser himmlischer Vater barmherzig? Wissen wir das? Wie sollen wir das lesen? Wie soll es uns sozusagen „In Fleisch und Blut übergehen“, sodass wir spontan, aus innerstem Herzen heraus Gottes Barmherzigkeit kennen, in uns tragen und sie leben? Wie sollen wir armen sündigen Menschen gerade in der Barmherzigkeit Gottes Vollkommenheit widerspiegeln? Gott hat uns diesen Weg zu seiner Vollkommenheit geoffenbart. Er hat sein Volk durch das ganze Alte Testament darauf vorbereitet. Er hat sein Volk, „als die Fülle der Zeit gekommen war, seinen Sohn gesandt“ (Gal 4,4). Jetzt können wir in einer menschlichen Gestalt Gottes Barmherzigkeit sehen. Und in der Gemeinschaft mit Jesus die Barmherzigkeit seines Vaters lernen. Wir können in der ebensgemeinschaft mit Jesus seine Jünger, seine Schüler werden. Er kann uns die armherzigkeit seines Herzens zeigen. Mehr noch, sie uns einprägen. Uns formen nach seinem Herzen. Das ist der neue Weg, den der Vater uns erschlossen hat. Wie sollten wir sonst Gottes Vollkommenheit kennenlernen, wenn wir sie nicht im menschlichen Antlitz Jesu schauen könnten? Jesu Barmherzigkeit also ist unser Weg, Gott ähnlich zu werden. So müssen wir Ihn bitten, uns Seine Barmherzigkeit zu zeigen. Ich werde zum Abschluss hierzu die heilige Sr. Faustyna um ihr Wort bitten, das uns helfen soll. Oft sehen wir Jesus im Evangelium von Erbarmen ergriffen. Ich nenne nur drei Beispiele: Die Witwe von Nain (Lk 7,11-15). Ihr einziger Sohn ist tot. Man trägt ihn zur Stadt hinaus. Jesus begegnet dem Leichenzug. Als Jesus die Witwe sah, „war er von Mitleid ergriffen“. Wörtlich: „bis in seine Eingeweide berührt“. Ein anderes Mal ist es ein Leprakranker, dessen Anblick und flehentliche Bitte Jesus zutiefst berührt. (vgl. Mk 1,41f). Wieder ein anderes Mal sind es zwei Blinde, deren Not Jesus tiefstes Mitleid erweckt (vgl. Mt 20,34). Was ist Barmherzigkeit? Ist es eine spontane, natürliche Reaktion auf die Not des Nächsten? Oder hat Jesus mit seiner Barmherzigkeit eine neue Haltung vom Himmel auf die Erde gebracht? Heute versuchen manche, die „Euthanasie“ als Barmherzigkeit hinzustellen. Ist es nicht unbarmherzig, einen Leidenden sich bis zum Tod in Qualen winden zu lassen? Ist es nicht barmherzig, sein Leiden abzukürzen? Es gibt zu denken, dass die Promotoren der Euthanasie das Töten eines Kranken sozusagen „beschönigen“ müssen, um es zu verteidigen. Als Christen müssen wir versuchen, die Dinge beim Namen zu nennen, sie ins Licht der Wahrheit zu stellen. Ein Freund, Arzt, hat mir gesagt, wie er mit Euthanasiewünschen umgeht. Wenn da Leute kommen und ihm sagen: „Herr Doktor, unsere Oma leidet so, könnten Sie Ihr Leiden nicht abkürzen, Sie wissen, so mit einer kleinen Spritze…“ – dann antwortet er: „Bringt doch eure Oma selber um!“ Mit einem Wort ist allen klar: Euthanasie ist Mord, auch wenn sie unter dem Mäntelchen der Barmherzigkeit versteckt wird. Erbarmen ist eine grundmenschliche Haltung. Nicht umsonst setzen wir Unbarmherzigkeit mit Unmenschlichkeit gleich. Wer bei der Begegnung mit Leid Mit-leid empfindet, verhält sich als echter Mensch. Wer über Leid spottet, verhält sich unmenschlich. Insofern hat Jesu Erbarmen auch einfach menschliche Züge. In der Schule Jesu lernen wir die einfachen Tugenden des Menschseins. Wir sollten also barmherzig sein, um wirklich menschlich zu sein. Etwas in mir protestiert: ich kann doch nicht zu allen Menschen barmherzig sein! Und ist Barmherzigkeit nicht doch etwas „von oben herab“? Brauchen wir nicht eher Gerechtigkeit als Barmherzigkeit? In meiner Jugend – ich gehöre zur sogenannten 68er Generation – war das ein großes Thema: Strukturen ändern, nicht da und dort ein wenig Barmherzigkeit. Das war die Versuchung des Marxismus: die Gesellschaft muss radikal geändert werden. Einzelne Werke der Barmherzigkeit zementieren nur die ungerechten Strukturen, so wurde damals behauptet. Die Frage ist schon bedrängend: Hat Jesus wirklich die Welt verändert? Warum gibt es nach wie vor Krieg, Hunger, Leid? Hat Jesus damals die Not beseitigt? Er hat einzelnen geholfen, aber hat das etwas gebracht? Jesus hat selber ganz provokant in Nazareth, seiner Heimat, darauf hingewiesen, dass auch früher schon, von den Propheten nur wenige geheilt wurden, und so war es auch bei Jesus (vgl. Lk 4,27). Wir kennen dieses Dilemma: Barmherzigkeit in einzelnen Fällen – was hilft das schon den vielen anderen, die in derselben Lage sind? Sollen wir auf die Barmherzigkeit verzichten, weil sie eh nicht viel ausrichtet? Auf diese Frage hat Jesus mit dem Barmherzigkeitsgleichnis vom Samariter geantwortet: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen…“. „Wer ist mein Nächster?“ fragt ein Gesetzeslehrer, genau aus dieser Schwierigkeit heraus: Ich kann doch nicht alle Menschen lieben? Ich kann nicht mit allen barmherzig sein! Doch darum geht es nicht. Barmherzigkeit ist nicht ein vages Gefühl der „Allerweltsliebe“. Sie ist konkret. In Jesu Erzählung kommen ein Priester und ein Levit des Weges. Sie sehen den Halbtoten, Ausgeraubten, und wechseln die Straßenseite und gehen vorbei. Sie hatten vielleicht verständliche Gründe: zum Beispiel Angst, selber überfallen zu werden. Die Räuber konnten ja noch nahe gewesen sein. Der Samariter tut, was menschlich ist: er ist von Mitleid tief bewegt. Er tut, was der Situation angemessen ist. Er unterbricht alle seine Reisepläne und Terminverpflichtungen und sorgt sich um den Schwerverletzten. „Wer von den dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde?“ Die Antwort ist unausweichlich: „Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat“ (vgl. Lk 10,25-37). Barmherzigkeit ist konkret. Sie betrifft nicht irgendwie alle, sondern den, der hier und jetzt meine Hilfe braucht. Aber wir brauchen doch alle Hilfe. Wir brauchen doch alle Erbarmen! Ja, gewiss! Aber wissen wir es schon? Glauben wir nicht sehr oft, dass wir keine Hilfe brauchen, und erst recht kein Erbarmen? Mir ist das besonders deutlich geworden in meiner Arbeit mit Suchtkranken, besonders Alkoholikern. Sie behaupten oft, dass sie keine Hilfe brauchen: „Das schaffe ich selber!“ Aber sie schaffen es nicht! Sie täuschen sich und versuchen, die anderen zu täuschen. Sie glauben, dass sie es verbergen können. Alle wissen schon von ihrer Alkoholsucht, aber sie glauben immer noch, dass sie es alleine schaffen. Wie soll da die Barmherzigkeit „greifen“, wenn die Einsicht in die eigene Not fehlt? Wir werden hier durch das Zeugnis von Sr. Elvira Kostbares hören, wie der Herr die Mauern der Sucht durchbrechen kann. Für mich ist die Suchtkrankheit ein Gleichnis für uns alle, die wir noch zu wenig auf Jesu Barmherzigkeit vertrauen. Jesus weiß, wie sehr wir sein Erbarmen brauchen. Wir sehen es oft noch nicht, noch zu wenig. Die Botschaft Jesu von der Barmherzigkeit seines Vaters wurde vielfach abgelehnt. Warum? Die Bibel hat darauf nur eine Antwort: wegen der Herzenshärte. Jeden Tag beginnen wir das kirchliche Stundengebet mit dem Psalm 95 „Kommt, lasst uns jubeln vor dem Herrn…“. Jeden Tag bewegt mich der eine Vers aus diesem Psalm: „Ach, würdet ihr doch heute auf seine Stimme hören! Verhärtet euer Herz nicht wie in Meriba, wie in der Wüste am Tag von Massa“ (Ps 95, 7-8). Herzensverhärtung ist das Gegenteil von Barmherzigkeit. Wie sehr müssen wir darum beten, dass unser Herz nicht „porös“, verhärtet, versteinert wird! Es darf nicht abstumpfen und gefühllos werden! Denn genau das ist die Ursünde des Menschen Gott gegenüber, und dann immer auch gleich dem Nächsten gegenüber. Herzensverhärtung ist Abfall von Gott und Verlust der eignen Menschlichkeit. Unsere Herzensverhärtung ist Ursache von soviel Leid unter uns Menschen. Sie ist auch die Ursache von Jesu Tod. Sie hat ihn ans Kreuz gebracht. Sie hat ihn gekreuzigt! Nur die Liebe Gottes, die bis ans Kreuz geht, kann unsere verhärteten Herzen aufbrechen. Seine Liebe zu uns hat er darin gezeigt, dass er sein Leben für seine Feinde hingab. Nur dieses Übermaß an Barmherzigkeit mit denen, die ihn töten, kann die Herzen öffnen. Barmherzigkeit beginnt erst dort das volle Maß Christi zu erreichen, wo sie der Herzenshärte begegnet. Nur sie, die scheinbar ohnmächtige Barmherzigkeit, kann die Versteinerung der Herzen lösen. Das hat der rechte Schächer am Kreuz erfahren, und deshalb ist er der erste im Paradies: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43). Das haben seither alle erfahren, die der gekreuzigten Liebe des Herrn begegnet sind. Im Angesicht des Kreuzes begreifen wir: Die Barmherzigkeit Gottes ist nicht die Folge, sondern die Ursache unserer Barmherzigkeit. Nicht wir haben Gott „umgestimmt“, sodass Er mit uns nicht zornig, sondern barmherzig wäre. Sein Erbarmen geht unserem Erbarmen voraus und macht es möglich. Deshalb wollen wir, deshalb dürfen wir „seine Barmherzigkeit in Ewigkeit preisen“. Liebe Brüder und Schwestern! Hier sollte eigentlich meinVortrag zu Ende sein. Doch muss ich noch ein Versprechen einlösen. An zwei Stellen habe ich auf die heilige Sr. Faustyna hingewiesen, auf Texte aus ihrem Tagebuch, die ich zu zitieren versprochen habe, Ich muss heute ihr, der große Heiligen der Barmherzigkeit, das letzte Wort lassen, Sie, die einfache Ordensschwester, soll uns für die kommenden tage dieses Kongresses eine starke Fürsprecherin und Wegweiserin sein. Den ersten Text hat sie am 10.10.1937 aufgeschrieben (Tagebuch Nr. 1318), knapp ein Jahr vor ihrem Tod: „O mein Jesus, zum Dank für viele Gnaden opfere ich Dir meine Seele und meinen Leib auf, meinen Verstand, meinen Willen und alle Regungen meines Herzens. Mit den Gelübden habe ich mich Dir ganz hingegeben: ich besitze nichts mehr, was ich Dir noch schenken könnte. Jesus sagte mir darauf: „Meine Tochter, du hast Mir nicht geschenkt, was tatsächlich dein ist“. Ich ging in mich und erkannte, dass ich Gott mit aller Kraft meiner Seele liebe. Ich konnte nicht sehen, was ich dem Herrn nicht gegeben hätte. So fragte ich: „Jesus, sage es mir und ich will es Dir sofort mit der ganzen Fülle meines Herzens geben.“ Jesus sagte gütig: „Tochter, schenke Mir dein Elend, denn das ist ausschließlich dein Eigentum“. – In dem Moment wurde meine Seele von einem Lichtstrahl erhellt und ich sah den ganzen Abgrund meines Elends. Sofort schmiegte ich mich mit so großem Vertrauen an das Heiligste Herz Jesu, dass ich – auch wenn ich auf meinem Gewissen alle Sünden der Verdammten hätte – an Gottes Barmherzigkeit nicht gezweifelt, sondern mich mit einem zu Staub zerriebenen Herzen in den Abgrund Seiner Barmherzigkeit gestürzt hätte. Ich glaube daran, Jesus, dass Du mich nicht von Dir gewiesen, sondern durch die Hand Deines Stellvertreters die Sünden nachgelassen hättest“. „Schenke Mir dein Elend, denn das ist ausschließlich dein Eigentum“. Alles andere haben wir von Gott geschenkt bekommen, Leib und Seele, Leben und Talente, Gnaden und Tugenden. Nur unsere eigne Misere gehört ganz uns! Welch eine Einladung, ganz und gar zu vertrauen! Auch und gerade in unserem Elend! Bevor ich den zweiten Text zitiere, der vielen von Ihnen bekannt ist, muss ich noch schnell ein Wort einfügen, das Jesus zu Sr. Faustyna gesagt hat, und das sie am selben 10. Oktober 1937 notiert hat: „Um drei Uhr flehe meine Barmherzigkeit an, besonders für die Sünder. Vertiefe dich wenigstens kurz in Mein Leiden, vor allem in meine Verlassenheit während des Sterbens. Das ist die Stunde der großen Barmherzigkeit für die Welt… In dieser Stunde versage ich nichts der Seele, die Mich durch Mein Leiden bittet“ (Tagebuch Nr. 1320). Darum wollen wir in den Tagen des Kongresses besonders auch die „Stunde der Barmherzigkeit“ einüben! Doch nun das letzte Wort an Sr. Faustyna. Es ist ihr großes Gebet, in dem sie Jesus bittet, sie ganz mit Seiner Barmherzigkeit zu „formen“, ihr Seine Barmherzigkeit so tief einzuprägen, dass sie ihr ganzes Wesen von innen her bestimmt. Möge dieses Gebet ein wenig die „Herzmitte“ des ganzen Kongresses sein: „Ich möchte mich ganz in Deine Barmherzigkeit umwandeln, um so ein lebendiges Abbild von Dir zu sein, o Herr, möge diese größte Eigenschaft Gottes, seine unergründliche Barmherzigkeit, durch mein Herz und meine Seele hindurch zu meinen Nächsten gelangen. Hilf mir, o Herr, dass meine Augen barmherzig schauen, dass ich niemals nach äußerem Anschein verdächtige und richte, sondern wahrnehme, was schön ist in den Seelen meiner Nächsten und ihnen zu Hilfe komme. Hilf mir, dass mein Gehör barmherzig wird, damit ich mich den Bedürfnissen meiner Nächsten zuneige, dass meine Ohren nicht gleichgültig bleiben für Leid und Klagen der Nächsten. Hilf mir, Herr, dass meine Zunge barmherzig wird, dass ich niemals über meinen Nächsten abfällig rede, sondern für jeden ein Wort des Trostes und der Vergebung habe. Hilf mir, Herr, dass meine Hände barmherzig und voll guter Taten sind, damit ich meinem Nächsten nur Gutes tue und schwierigere, mühevollere Arbeit auf mich nehme. Hilf mir, Herr, dass meine Füße barmherzig sind, dass sie meinen Nächsten immer zu Hilfe eilen und die eigene Mattheit und Ermüdung beherrschen. Meine wahre Rast ist im Dienst am Nächsten. Hilf mir, Herr, dass mein Herz barmherzig ist, auf dass ich alle Leiden der Nächsten empfinde, dass ich niemandem mein Herz versage, aufrichtigen Umgang auch mit denen pflege, von denen ich weiß, dass sie meine Güte missbrauchen werden; ich selbst werde mich im barmherzigsten Herzen Jesu verschließen. Über eigene Leiden will ich schweigen. Deine Barmherzigkeit, o mein Herr, soll in mir ausruhen (…) O mein Jesus, verwandle mich in Dich, denn Du vermagst alles.“ Amen.
|